Anne Germaine Louise Baronin de Staël-Holstein, geborene Necker, in Paris, war eine der ungewöhnlichsten Frauen an der Schwelle des 18. zum 19. Jahrhundert. Wer war sie, eine patriotische Französin, eine in der Wolle gefärbte Schweizerin, eine reiselustige Europäerin avant la lettre? Und: was war Heimat für die unstete, über 20 Jahre aus Frankreich exilierte Intellektuelle, deren Besuch in Weimar im Winter 1803/04 hier in Hofkreisen, aber insbesondere auch bei Goethe, Schiller und Wieland für große Aufregung sorgte?
Überhaupt geht die Erziehung der Tochter bis in deren 14. Lebensjahr ausschließlich von der Mutter aus, die das Kind einerseits an sich kettet, sie aber gerade deswegen andererseits auch in ihren berühmten Salon integriert, wo die Kleine früh durch kluge Fragen auffällt und sich die gesellschaftlichen Comments quasi spielerisch aneignet, daneben aber ein durch die geistigen Anregungen stark ausgeprägtes Expansionsbedürfnis entwickelt.
Ihre Eltern waren früh verstorben, sodass ihr dank ihrer ausgezeichneten Bildung - sie hatte Latein, Griechisch und andere Sprachen gelernt, aber besaß auch naturwissenschaftliche Kenntnisse, solche der Literatur, Philosophie und Musik - ein Posten als Erzieherin im Hause einer reichen Witwe in Lausanne angeboten wurde. Sie konnte ihren Lebensunterhalt verdienen und daneben am Luzerner künstlerisch-akademischen Leben teilnehmen. Sie erfährt eine besonderes Situation, dass man sich ausschließlich wohlfühlt im Kreise von ausgezeichneten sogenannten "hommes supérieurs", mit denen man – wohlgemerkt als Frau - auf Augenhöhe diskutiert, wobei die geistreichen, eleganten bonmots Teil des Diskurses sind und nicht nur Beiwerk.
Natürlich wählt nicht sie ihren Ehemann, sondern sie wird verheiratet. Ab ihrem 12. Lebensjahr sinnen ihre Eltern eigentlich über nichts anderes nach, als darüber, wie sie eine möglichst vorteilhafte Partie für die Tochter einfädeln können. Sie selbst geht derweil ins Theater und schreibt ihre ersten philosophischen Traktate, die jedoch ihrer Kritik der späteren Jahre nicht mehr standhalten und von ihr vernichtet werden. 1786 schließlich, findet die Hochzeit zwischen der steinreichen Ministertochter und dem auf Schulden sitzenden kleinen schwedischen Freiherrn de Staël-Holstein statt. Die Installierung eines eigenen Salons ist ihre wichtigste Tat zu Beginn der Ehe, und anders als der eher schöngeistig ausgelegte Salon der Mutter ruht ihr Schwerpunkt mehr auf der durch Philosophie untermauerten Politik.
Indes werden die hohen Erwartungen Madames an den Sieg von Vernunft und Freiheit getäuscht, das Terrorregime nimmt in Frankreich nun seinen Lauf. Der König wird verhaftet, ebenso Marie Antoinette. Alle Adligen und damit auch Madame sind nun gefährdet. Sie überlegt aber dennoch, wie sie der Königin zur Rettung verhelfen kann. Endlich begreift sie, dass es niemandem etwas nutzt, wenn auch sie selbst hinter Gittern landet, und sie flieht daher in die Schweiz, um ihren Freunden von hier aus beizustehen. Sie kann sowohl dem Abbé Talleyrand wie auch ihrem Geliebten Narbonne zur Flucht nach England verhelfen und findet sich wenig später ebenfalls in England wieder, doch nicht für lange Zeit, denn Narbonne beendet die Beziehung zu ihr.
Wenig später verfasst sie ihren ersten veröffentlichten Roman,
„Zulma“,
in welchem sie sich über die gescheiterte Beziehung zu Narbonne Rechenschaft ablegt.
Das Jahr 1793 beginnt mit der Hinrichtung Louis XVI., ein halbes Jahr später folgt ihm Marie Antoinette auf die Guillotine. Anfang 1793, kurz nach der Geburt von Albert, ging sie für mehrere Monate nach England. Dort traf sie sich mit französischen Emigranten, unter anderem Narbonne, und begann die größere philosophisch-politologische Schrift
De l'influence des passions sur le bonheur des individus et des nations
(Vom Einfluss der Leidenschaften auf das Glück der Individuen und der Nationen),
die 1796 gedruckt wurde.
<< „… ein bemerkenswert reifes Werk, in dem die Autorin die ganze Bandbreite ihrer privaten, gesellschaftlichen und politischen Lebenserfahrung in die Höhe philosophischer Reflexion führte. Mit Mitte Zwanzig hatte sie bereits einen Kosmos durchschritten, für den andere ein langes Leben brauchen, und ihre Fähigkeit zur Abstraktion ermöglichte ihr auch diese höhere Warte. Werk und lebensgeschichtlich bedeutet die Schrift für Germaine de Stael eine große Zäsur: einen Abschied, wie sie selbst anführte, von den Blütenträumen und Illusionen der Jugend, da man noch glaubte, dass das Leben ein ständiges Wachstum sei. … / …Das Glücksstreben des Menschen, so lautet die Kernaussage des Werkes, ist im Grunde ein Paradoxon unvereinbarer Gegensätze und daher zum Scheitern verurteilt.
“Die Leidenschaften, diese impulsive Kraft, die den Menschen unabhängig von seinem Willen mit sich fortreißt, sind das eigentliche Hindernis allen individuellen und politischen Glücks”
, denn ohne diese würden sich ja die Dinge im Gleichgewicht befinden wie bei den Hebeln und Gewichten einer Maschine, die Wünsche und die Bedürfnisbefriedigungen der Menschen wie auch der Staatswesen. Es sei aber immer das Unvereinbare, das die Leidenschaft heraufbeschwöre und aufwirbele. Wo schließlich gäbe es das: Hoffnung ohne Angst, Liebe ohne inneren Wandel, Aktivität ohne Unruhe, Ruhm ohne Verleumdung? Auch die leidenschaftliche Liebe führe uns niemals zum Glück, da ihre Erfüllung nicht zur Dauer bestimmt sei und den Rest der Existenz verdüstere, sobald die Erfüllung sich verflüchtige. Ruhm und Liebe … sind nur momenthafte Exaltationen. Dass beide kein dauerhaftes Glück gewährleisten können, weiß sie nach den ersten Schiffbrüchen ihres eigenen Lebens. In ihren späteren Romanen
Delphine und Corinne oder Italien
würde sie noch einmal gesondert auf das Spannungsverhältnis von Liebe und Freiheit eingehen, das sie an den Erfahrungen und Psychogrammen ihrer Heldinnen abhandelt. Dass man die Liebe nicht mit einer Preisgabe der ganzen Person verwechseln darf und dass es notwendig ist, stets die gestaltende Kraft seines eigenen Schicksals zu sein, lautet etwa die Lehre dieser Romane – wenigstens wenn man sie <modern> interpretiert-, in denen die Heldinnen durch Liebe im Untergang enden. >> (Sabine Appel; Madame de Stael, Kaiserin des Geistes, Eine Biographie, S. 89 ff.)
Madame de Stael arbeitet jetzt an einem Briefroman, Delphine, der massiv an den neu eingerammten Pfeilern der napoleonischen Staatsmoral rütteln sollte: Sie propagiert in ihm die Ehescheidung als einziges Mittel in desperaten Eheverbindungen und preist die freie, wahrhaftige Liebe, die über allem stehe, dazu natürlich die Ideale der Französischen Revolution. Der Roman spielt in den ach so glücklichen Zeiten von 1790-92, erscheint hingegen in einer historisch völlig veränderten Zeit, 1802. Auch in Weimar wird Delphine sofort rezipiert, und auch hier identifiziert man die Autorin mit der Heldin. Trotz all ihrer Vorbehalte glaubt Madame nach wie vor, mit dem neuen Buch Gnade vor den Augen Napoleons zu finden und die Erlaubnis zu erhalten, wieder nach Frankreich zurückkehren zu dürfen, ein verhängnisvoller Irrtum.
Madame de Staël verfolgt inzwischen den kometenhaften Aufstieg Napoleon Bonapartes mit allergrößtem Interesse. Sie hält ihn, ebenso wie ihren eigenen Vater und etwas später den Weimarer Dichter Goethe für einen „homme supérieur“, einen Übermenschen, einen Menschen, der aufgrund seiner moralischen wie intellektuellen Fähigkeiten allen übrigen weit überlegen ist.
1800 publiziert sie die bedeutende Abhandlung
De la littérature considérée dans ses rapports avec l'état moral et politique des nations
(Literatur in ihren Beziehungen mit dem moralischen und politischen Zustand der Nationen).
Hierin formuliert sie als eine der ersten die Theorie, dass literarische Werke geprägt seien durch die konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse, innerhalb derer sie entstehen, allerdings auch durch die klimatischen Bedingungen. In diesem Sinn ruft sie die quasi zwischen Nord und Süd platzierten französischen Literaten auf, sich nicht mehr nur an der heidnisch und antik geprägten mediterranen Kultur zu inspirieren, sondern auch an der christlich und mittelalterlich geprägten germanischen,
womit sie der beginnenden Romantik den Weg weist.
Für die Französin ist auch die Korrespondenz mit den beiden deutschen Dichter Goethe und Schiller wichtig. So schreibt Goethe an Schiller:
„Es ist äußerst interessant zu sehen, wie eine so passionierte Natur durch das grimmige Läuterfeuer einer solchen Revolution, an der sie soviel Anteil nehmen mußte, durchgeht, und ich möchte sagen, nur das geistreich menschliche an ihr übrig bleibt.“
Goethe und Madame korrespondieren ebenfalls. Das Interesse am deutschen Dichterheros weckt ihr Interesse für die deutsche Literatur insgesamt, für die deutsche Sprache und Kultur, ja letztlich für Deutschland. Im Bereich der Literatur stellt sie Goethes Werther und Rousseaus La Nouvelle Héloïse gar auf dieselbe Rangstufe, etwas Ungeheuerliches für eine nationalstolze Französin. Sie schreibt an Goethe:
„Die Lektüre des Werther hat in meinem Leben Epoche gemacht wie ein persönliches Ereignis, und dieses Buch zusammen mit der Nouvelle Héloïse sind meiner Ansicht nach die beiden Meisterwerke der Literatur. Seit zwei Monaten lerne ich Deutsch, um Sie im Original zu lesen.“
Sie möchte nach Deutschland, das Land, das anders ist, indem die Ideale blühen, vielleicht keine neue Heimat, aber doch ein neuer geistiger Horizont und nur der könnte die Voraussetzung für eine neue Heimat sein ...
Madame de Staëls Kampf wird weitergehen, mit Hilfe der Ideale der Deutschen und ihrer Vertreter, der deutschen Autoren und Philosophen, Kant, Fichte, Goethe, Herder, Schiller und Wieland. Sie weiß es genau: Sie und nur sie kann die Autorin eines Buchs über Deutschland werden, dieses Land der Phantasten, die so anders sind als die Franzosen. Es wird erstmals ein Buch sein, das sich bewusst gegen Napoleon wendet, den pragmatischen Töter aller Ideale, den Gewaltmenschen, der ihre Hilfe so lange vehement zurückgewiesen hatte.
„Man muss Gesellschaft haben, um gescheit zu sein, Gesellschaft um zu lieben, für alles braucht man Gesellschaft ... sobald man zu zweit ist, hat man das Bedürfnis nach viel mehr Menschen.“
Zwei Vorurteil waren ihr vorausgeeilt, sie sei eine “Weltfrau” und ein “ Mannweib”, bar jeder weiblichen Anziehungskraft, das zweite bestätigte sich in Weimar nicht in vollem Umfang. Sie ist keine Grazie, zugegeben, doch besticht sie durch ihre Empfindsamkeit, ihre Menschenfreundlichkeit und ihr Interesse, so der immer die Neuankömmlinge beschreibende Hofrat Böttiger.
Madame hatte schon vor der Reise entschieden, warum sie nach Deutschland reisen wollte:
Zur Abfassung ihres Buchs “Über Deutschland.”
Letztlich reiste sie zur Verifizierung ihrer bereits in Frankreich gefassten Gedanken über das seltsam idealistische Land.
Goethe glaubt, seine geistigen Kräfte zusammennehmen zu müssen, er ist 54 Jahre alt, sie 37. Er hat keine Lust, sich von einem verbalen Lavastrom überrollen und aus seinem Arbeitsprogramm herausbringen zu lassen und bittet daher Schiller, ihn zunächst zu vertreten. Schiller erstattet Goethe Bericht über den französischen Besuch:
„Frau von Staël wird Ihnen völlig so erscheinen, wie Sie sie sich a priori schon konstruiert haben werden; es ist alles aus einem Stück und kein fremder, falscher und pathologischer Zug in ihr ... In allem, was wir Philosophie nennen, folglich in allen letzten und höchsten Instanzen ist man mit ihr im Streit und bleibt es, trotz allen Redens ... Sie will alles erklären, einsehen, ausmessen, sie statuiert nichts Dunkles, Unzugängliches, und wohin sie mit ihrer Fackel leuchten kann, da ist nichts für sie vorhanden."
Im wesentlichen geht es Germaine de Stael darum, möglichst viele der literarischen, ästhetischen und philosophischen Anschauungen aufzusaugen, die die Weimarer Dichter-Philosophen ihr eigen nennen, denn für ihr Buch über Deutschland braucht sie möglichst viel Material. Aus diesem Grunde besucht sie auch die Jenaer Professoren, allen voran Fichte, dessen Theorie sie jedoch in ihrer Art in böser Verkürzung darstellt. Madame profitierte also von ihren zahlreichen persönlichen Kontakten, um dieses Buch zu verfassen, das erst 1813 erscheinen sollte.
Madame hingegen bewundert England, da es Europa gegen Anarchie und Despotismus geschützt hat, und nun bewundert sie auch Deutschland, …
Es vermittelt ein ganz bestimmtes Deutschlandbild nach Frankreich, das bald im gesamten europäischen Ausland bekannt sein sollte und bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts die Grundlage der Deutschlandsicht der Franzosen darstellte. Eine wichtige, in diesem Buch immer wieder vorgetragene These ist die von den Deutschen als gefühlvollen Denkern, die jedoch ohne große Energie in einer gewissen Apathie verharrten. Diese Sicht wird von de Staël antithetisch gegen das napoleonische Frankreich konstruiert, das in ihren Augen zwar tatkräftig, doch gedankenarm war.
Noch 1835 findet das Buch in Heinrich Heine einen ganz massiven Kritiker (Die romantische Schule). Er beklagt die vielen Verkürzungen und das zu sehr lobende Deutschlandbild.
August Wilhelm Schlegel, dessen Ehe im Vorjahr 1803 geschieden worden war, begleitete Germaine de Staël nach Coppet und wich nicht mehr von ihrer Seite, obwohl sie ihn nicht besonders liebevoll behandelte. Während sich auch sein Bruder Friedrich sechs Wochen lang in Coppet aufhielt, versicherte August Wilhelm Schlegel seiner ein Jahr älteren Angebeteten am 18. Oktober schriftlich, sie könne über ihn wie über einen Sklaven verfügen: »Hiermit erkläre ich, dass Sie jedes Recht auf mich haben und ich keines auf Sie. Verfügen Sie über meine Person und mein Leben, befehlen und verbieten Sie – ich werde Ihnen in allen Stücken gehorchen.«
Im Leben Madames, das sie seit 1813 im Londoner Exil fortsetzt, natürlich wieder in einem von ihr gegründeten illustren Salon, gab es nochmals einen neuen Mann und ein fünftes Kind. Gesundheitliche Probleme nehmen zu, wohl auch aufgrund des ständigen Opium-Konsums.
1814 endlich, als Napoleon abgedankt ist, kann sie in die so lange entbehrte Heimat Frankreich zurückkehren.
Am 14. Juli 1817 stirbt sie im Alter von 51 Jahren an den Folgen eines Schlaganfalls.
Annette Seemann; Madame de Staël - Deutschland und Frankreich. Der Heimatbegriff einer Intellektuellen am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert
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