Mit 5 Jahren kam Gertrud in die Klosterschule von Helfta bei Eisleben in der Provinz Sachsen.
Das sehr begabte und bildsame Kind lernte mit Eifer, beinah mit Ungestüm, und mit seltenem Erfolg die freien Künste. Unter Ihnen waren für Nonnen besonders belangreich Latein und Musik. Die Fülle und Gewandheit, die Gertrudis im Lateinischen nach Ausweis ihrer lateinisch geschriebenen “Geistlichen Übungen” gewann, erregte billig Staunen und erinnerte an eine berühmte benediktinische Vorgängerin: Hrotsuita von Gandersheim.
Im Alter von 26 Jahren, am 27. Januar 1282, hatte sie ihr religiöses Schlüsselerlebnis, eine erste Vision, in der sie sich von Christus in seine besondere Nachfolge gerufen sah.
Hier rauf nahm Gertrudis eine Kehr von den freien Künsten zu den rein geistlichen Studien; sie vertauschte Grammatik und weltliche Literatur, in die sie sich nach eigenen Anschauungen zu stark verloren hatte, mit der Theologie.
Groß war Gertruds Liebe zu Jesus, ebenso stark war auch ihre Liebe zu den Menschen. Stundenlang war sie den Menschen ihrer Umgebung Zuhörerin, Ratgeberin, Trösterin. Gleichzeitig war sie eine hochgebildete und künstlerisch begabte Frau.
Als bedeutende Mystikerin, Theologin und Sprachkünstlerin gehört sie zu den herausragenden Frauen des Mittelalters;
sie trägt als einzige deutsche Heilige den Beinamen “die Große”.
Durch sie, ihre Lehrerin Mechthild von Magdeburg (um 1207–1284/92)
und ihre Mitschwester Mechthild von Hackeborn (Hakeborn) (1241–1298/99)
gilt Helfta als “Krone der deutschen Frauenklöster.”
Über Gertruds mystischem Leben liegt die ganze Zeit wohltuende Schlichtheit, Ruhe, Gleichmäßigkeit, Seelenstärke und Milde. Gedanken- und Willenskraft drängen bei ihr immer weiter nach Vollkommenheit. Das Gefühl der Unzulänglichkeit begleitet die strebende Seele treu, und ebenso ein stets wacher Buseifer, der in seinem Feuer Regungen z.B. von Ungeduld und Eitelkeit ausschmilzt. Demut, Offenherzigkeit, Geduld und allumfassende Liebe treten an Gertrud leuchtend hervor.
Sie dürstet nach seelischer Vollendung; sie ruht nie in sich selbstzufriedenem Genuß der Gnadenerweise; ja diese benehmen ihr nicht einmal die Überzeugung, es nicht wert zu sein, daß der Erdenboden sie trage. Sie betrachtet ihre Begnadigung überhaupt nicht als persönliche Auszeichnung oder gar als eine Belohnung; sie glaubt nur die Aufgabe eines Beispiels zu haben, an dem man lernen möge, wie huldreich die Menschenfreundlichkeit Gottes auch zum unwürdigsten Geschöpfe sich herabneige, die Aufgabe einer Heroldin des gottmenschlichen Herzens des allerbarmenden Heilandes.
Aus solchem Glauben fließt ihr Hochachtung und reine, starke Liebe für den Mitmenschen, tiefer Zartsinn ohne süßliche Weichheit. Sie ist voll Mitleid, selbst für leidende Tiere, deren sie neben erhabenster Beschauung nicht vergißt. Die Zusammenschau der einzelnen Züge von Gertruds innerem Leben, die der “Gesandte” vorab im ersten Buch schildert oder andeutet, läßt bei ihrem Wandel in vollem Lichte des heiligen Evangeliums wahrnehmen.
Die geistvolle, lebhafte, willensstarke Heilige entspricht so recht dem, was ihre Ordensregel im 72. Kapitel vom guten Eifer verlangt.
Wie sie in diesen Spiegel hineinschaut, so schaut sie auch aus ihm heraus.
(Aus der Einführung für das Buch “Gesandter der göttlichen Liebe” von P.Anselm Manser O.S.B. übersetzt von J. Weißbrot erschienen im Herder-Verlag)
Weitere mystische Erlebnisse vertieften in den folgenden Jahren ihre Christusbeziehung. Gertrud entwickelte nun, als Mittelpunkt des Helftaer Theologinnenkreises, eine lebhafte literarische Tätigkeit:
sie übersetzte Teile der Bibel ins deutsche,
verfasste zahlreiche Gebete, sowie ihre beiden Hauptwerke, die
Exercitia spiritualia (Geistliche Übungen)
und – mit Unterstützung durch Mitschwestern – den
Legatus divinae pietatis (Gesandter der göttlichen Liebe).
Später schrieb sie, zusammen mit einer namentlich unbekannten Mitschwester, im
Liber specialis gratiae (Buch der besonderen Gnade)
auch die Offenbarungen der Mechthild von Hackeborn nieder.
In ihrem schriftstellerischen Werk entwickelte Gertrud mit hoher Sprachkunst eine Theologie ganz eigener Prägung, wobei sie geradezu eine mystische „Summa“ der Theologie und der religiösen Spekulation ihrer Zeit verfasste. Im Mittelpunkt steht die umfassende, bis in kosmische Dimensionen ausgreifende Botschaft von der „Gott-Liebe“.
Wohl selten in der Geschichte des Christentums wurde Gott so ausschließlich als Liebe gesehen wie bei Gertrud.
Aus der Sehnsucht des liebenden Gottes nach dem Menschen, insbesondere aus der Menschwerdung Gottes, leitet sich die unvergleichliche Würde eines jeden Menschen ab.
Das vertrauensvolle Gebet Das Gebet hat große Kraft, das ein Mensch nach bestem Können verrichtet. Es macht ein bittres Herz süß, ein trauriges froh, ein armes reich, ein törichtes weise, ein verzagtes kühn, ein schwaches stark, ein blindes sehend, ein kaltes brennend. Es zieht den großen Gott in ein kleines Herz. Es trggt die hungrige Seele empor zu Gott, dem lebendigen Quell, und bringt zusammen zwei Liebende: Gott und die Seele.
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